Zum 9. November 1989 Sternstunde verpennt

Nov 1, 2019

Zum 9. November 1989 – Kann man den absolut abgefahrensten Tag seines Lebens verpennen? Ja, man kann!

Völlig unerwartet hatte ich eine Besuchsgenehmigung von Verwandten in Westberlin bekommen. Die Tage vergingen wie im Flug, der letzter Abend war gekommen. Den ganzen Tag war ich schon auf den Beinen, wollte so viele Eindrücke wie möglich speichern, ehe ich wieder zurück in die DDR musste. Durchgefroren und pflastermüde ging ich heim und fiel todmüde ins Bett. Ausgerechnet in jener Nacht ist halb Berlin auf den Beinen und stürmt die Mauer um ein unbeschreibliches Wiedersehen zu feiern. Im Brennpunkt der Weltgeschichte verschlafe ich den 9. November 1989.

Sternstunden wie jene Novembernacht sind selten. Sie lassen sich weder planen noch nachholen. Verpasst ist verpasst. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

In den Geschichten, die Jesus den Menschen erzählte, ging es ebenfalls ums verpennen. Da verschliefen geladene Gäste mit der Einladungskarte in der Hand eine Hochzeit, Angestellte vergaßen einen wichtigen Termin mit dem obersten Chef und ein Hausbesitzer wurde von Einbrechern überrascht, obwohl er gewarnt war. Kann man wirklich so verpeilt sein? Kann man die Sternstunde im Leben verpennen, vielleicht gar die Wende der Weltgeschichte? Unglaublich – und doch nicht unmöglich.

Wiederholt hat Jesus davor gewarnt, irgendwie dahinzudämmern und am Ende das Allerwichtigste im Leben zu verpassen. Das ist aber nicht irgendein Termin oder Ereignis – es ist das Reich Gottes. Das käme nicht erst in 1.000 Jahren oder wäre irgendwo da draußen, sondern es sei jetzt schon da und „mitten unter uns“, so Jesus. Damit meinte er wohl, dass man im Leben hellwach und immer bereit sein soll, selbst Unerwartetes zu erwarten.

Seit 30 Jahren erinnert uns der 9. November daran, dass Unmögliches möglich geworden ist. Der 9. November erinnert allerdings auch daran, dass das Undenkbare grausame Wirklichkeit werden kann, wenn man die Warnsignale übersieht weil die Sinne vernebelt sind. In der sogenannten Reichspogromnacht 1938 wurden Mauern in den Köpfen zum tödlichen Wahnsinn.

Sicher, einmal werden wir sein wie die Träumenden (Psalm 14,7) – dann, wenn alle Mauern eingerissen, alle Gräben zugeschüttet sind und alle Feindschaft zwischen Menschen und Völkern begraben sein wird. Davon träumen wir, auf diese Zukunft hoffen wir, weil sie bei Gott möglich ist. So zu träumen aber heißt zugleich hellwach zu sein, Mauern im Kopf und im Herzen abzubrechen, Trennendes zwischen Menschen aufzugeben und Versöhnung zu stiften. Denn so handelte Gott durch Jesus Christus: „Er hat die Mauer niedergerissen, die trennend dazwischen stand. Wir sind nun sein Volk und leben durch Christus nicht länger voneinander getrennt, sondern können als Versöhnte miteinander leben“ (nach Eph.2,14-16).

Andacht: Lothar Scheel, Foto: Andreas Schrock

 

Verlag am Birnbach - Motiv von Stefanie Bahlinger, Mössingen

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