Der Kirchenvater Augustinus (354-430) hat einmal gesagt: „Liebe – und dann tue, was du willst!“ Kann da etwas dran sein? Das klingt nach Willkürlichkeit. Und doch auch schlüssig. Jesus sagt in Matthäus 5, 17 und 18: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen!“ Wie ist das gemeint? Nicht auflösen, sondern erfüllen? Und steht das nicht in krassem Wiederspruch zu dem, was Augustinus gesagt hat? Ich habe vor kurzem folgende Geschichte gehört, die ich mit euch teilen will:
Es war eine Frau mit dem Namen Nancy. Nancy hatte von klein auf einen Traum. Sie wollte einen schönen Mann finden, ihn heiraten und bis an ihr Lebensende mit ihm glücklich leben. Mit 14 begann sie sich auszumalen, wie sie eines Tages vor dem Altar stehen würde, neben ihr der Traummann den sie liebt. Und tatsächlich eines Tages war es soweit. Nancy lernte Hermann kennen. Hermann war einfach perfekt. Er war groß, schön und dazu konnte er so gut Gitarre spielen. Hermann schien alle Punkte ihrer heimlichen Checkliste zu erfüllen. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass Nancy sich bald vor dem Altar wiederfand und Hermann heiratete.
Am Morgen nach der Hochzeit wurde Nancy sanft von Hermann geweckt: „Liebling, es ist Zeit aufzustehen.“ Verwundert stellte sie fest, dass es erst 5 Uhr ist. Mit einem freudigen Lächeln überreichte ihr Hermann einen Zettel. „Hier dein Tagesablauf. Ab jetzt musst du nicht mehr denken, das übernehme ich für dich.“ 6:00 Uhr darfst du das Frühstück vorbereiten. Von 7 Uhr bis 7:30 Uhr gemeinsames Frühstück. Danach Küche aufräumen. 9 bis 10 Uhr hast du eine Stunde für dich. Ab 10 Uhr Wäsche waschen … 16 Uhr Essen kochen … 22 Uhr schlafen. Nancy fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Wie konnte Hermann ihr vorschreiben, wie sie zu leben und was sie zu tun hat? Sie war jedoch so perplex, dass sie nichts erwidern konnte. Tag für Tag schrieb ihr nun Hermann eine Liste und Tag für Tag richtete sich Nancy treu nach der Liste.
Zuerst fiel es ihr schwer und sie überlegte, wie sie Hermann darauf ansprechen könnte. Doch nach einiger Zeit hatte sich Nancy daran gewöhnt. Das Gefühl der Bevormundung ließ jedoch nicht nach und Tag für Tag fiel es Nancy schwerer, diesen Zustand zu ertragen. Nancy fand jedoch nicht die Kraft, an ihrer Situation etwas zu ändern. Schließlich hatte sie Hermann geheiratet. Nach einige Jahren verstarb Hermann plötzlich und völlig unerwartet. Nancy fühlte sich sehr verunsichert. Noch einige Tage folgt sie aus Gewohnheit den bekannten Listen. Doch dann beschloss sie, dass sich das, was sie erlebt hat, nie wiederholen soll. Sie würde nie wieder heiraten und sich einem Mann so ausliefern. Was war aus ihrem Traum geworden?
Doch es kam anders. Nancy lernte einen Mann kennen. John, ein fantastischer Mann. Er erfüllte alles, was Nancy sich erträumen konnte. Er war freundlich, hörte ihr zu, wenn sie redete und sie konnten beide wunderbar miteinander lachen. Schließlich fand sich Nancy dort wieder, wo sie nie mehr stehen wollte: In der Kirche vor dem Altar. Die Hochzeit verging, die Hochzeitsnacht kam und am Morgen danach weckte sie John sanft mit den Worten: Mein Liebling, Zeit zum Aufstehen! In seiner Hand ein Zettel …
Wie vom Donner gerührt sprang Nancy auf und schrie: Nein, nein, das kann nicht sein! Völlig perplex sah John sie an. Nancy griff den Zettel und zerriss ihn. John protestierte. Es dauerte einige Minuten, bis sich beide gefasst hatten und Nancy sich erklären konnte. Daraufhin sagte John: Ich habe dir einen Song geschrieben und Frühstück vorbereitet. Ich wollte dich nur überraschen. Nancy bekam von John nie einen Tagesablauf aufgeschrieben. Nach einigen Jahren Ehe stellte Nancy jedoch fest, dass sie vieles von dem, was sie früher für Hermann getan hatte jetzt genauso für John tat. Und doch war ihr Leben ein ganz anderes.
Text: Ruben Hauschild
Foto: Simon Krautschick