Mein Weg

Jul 18, 2024

Es ist ein schöner Frühsommertag. Ich bin mit Olga Kisselmann verabredet, meiner Schwester im Glauben aus dem Adventhaus Dresden. Eigentlich wollen wir über ihre Wege zwischen Kirgisien, Russland und Deutschland sprechen. Doch wir kommen über die Kindheit in der Sowjetunion nicht hinaus. Eine Kindheit als Russlanddeutsche.

Wo wollen wir anfangen, Olga?

Mit sieben Jahren bist du Schulanfänger. Und ich war sieben Jahre. Am 1. September beginnt immer die Schule. Ich bin mit meiner Mama gegangen. Ich habe in die Klasse reingeguckt, ich habe die Schüler gesehen. Die Lehrerin hat etwas erzählt zu meiner Mama, aber ich habe es nicht verstanden. Und dann sind wir nach Hause gegangen, sehr weit, ungefähr drei Kilometer. Meine Mama war still. Und ich habe gefragt: Warum bin ich nicht einfach in die Klasse reingegangen? Sie sagte: Du weißt keine russische Sprache.

(Stille)

Papa war streng. Er hat immer gesagt: Kinder, wir dürfen unsere Sprache nicht vergessen, die deutsche Sprache. Deshalb sprechen wir zu Hause immer deutsch!

In welcher Sprache habt ihr im Dorf gesprochen?

Wir hatten nicht so viele Kontakte. Das Dorf war sieben Kilometer lang, wie eine Stadt oder Vorstadt. Wir haben am Ende vom Dorf gewohnt, gegenüber war eine deutsche Familie, wir haben mit ihr gesprochen. Und hinter dem Garten waren auch Deutsche, Kinder, vermischt mit russischem Mann.

Adventgemeinde in Tokmak/Kirgisien, 1969

Hattet ihr russische Kontakte über die Schule oder die Kirche?

Ich habe mich gewundert. Es gab ein Nachbardorf, fünf Kilometer weg. Dort waren viele Baptisten, die haben auch deutsch gesprochen. Und viele von den Kindern waren in unserer Schule. Wir haben als Kinder nicht miteinander gespielt. Die Baptisten haben gesagt: Wir haben den falschen Glauben, als Adventisten. Und meine Eltern haben gedacht: Die Baptistenkinder könnten unsere Kinder verführen. Und zweitens haben sie gedacht: Unsere Kinder können kein Russisch, sie werden ausgelacht.

Konnte denn keiner russisch in eurer Familie?

Die Oma konnte kein Russisch. Aber Papa konnte Russisch, er ist mit sieben Jahren zur Schule gegangen. Er hat gut gelernt, er hat ganz viel gelesen. – Am nächsten Tag bin ich mit meiner Mama wieder zur Schule gegangen. Ich bin in die Null-Klasse gekommen. Das ist wie hier die Vorschule. Eine Stufe drunter ist dann die Förderschule. Ich war die einzige Deutsche in der Null-Klasse. Die anderen waren Muslime, das waren Dunganui. Ich zeige dir, wie sie aussehen.

(Wir finden in der Wikipedia die Volksgruppe der Дунганы/Dunganen: Eine muslimische Minderheit in China, die vor ca. 1.000 Jahren nach Zentralasien einwanderte, vor allem nach Kirgisien und Kasachstan.)

Die anderen in der Klasse waren also Muslime, die Nachfahren von den Chinesen, die damals eingewandert sind.

Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes (Matth. 6,33). Das bedruckte Tuch durfte nicht nass werden. Die Mutter legte es manchmal auf dem Bett aus.

Ich dachte, ihr habt im Sozialismus gelebt?

Heute denke ich so: Der Sozialismus war für die Muslime nicht so wichtig. Wichtig war der Garten für sie. Sie haben das ganze Land, wie sagt man… gefüttert! Die eigentlichen Kirgisen sind nicht so arbeitsam. Sie bauen nur Mais und Zuckerrüben an, und sie halten Schafe.

Wie ging es weiter in der Schule?

Ich habe also Russisch gelernt, habe gekriegt Asbuka (Anmerkung: entspricht dem deutschen A-B-C). Ich habe mir viel Mühe gegeben. Die Öffnungszeiten von der Bibliothek waren schon vorbei. Die Frau dort sagte: Mädchen, ich muss los! Aber ich konnte nicht aufhören. Ich hatte die Hand voller Bücher. Mein erstes Buch: Почему (Warum)…., das war das erste Buch in meinem Leben, was ich durchgelesen habe. Es waren ungefähr 30 Seiten. Das war bei den Hähnen…

Was war die schönste Erfahrung für dich in der Schule?

Ich habe viel Russisch gelernt. In der 3. Klasse habe ich in einem Wettbewerb gewonnen, ich habe in 1 Minute insgesamt 113 Wörter gelesen, auf Russisch. Das war der dritte Platz in der Schule. Am schönsten war: Ich habe Gedichte auswendig gelernt, zum Beispiel von Puschkin das Gedicht Nekrassow. Ich habe die russische Grammatik einfach gefressen! Ich konnte keine Fehler leiden.

Не унываю…(Sei nicht traurig). Liedheft für den Gottesdienst in der Adventgemeinde Tokmak.

Hattest du Freunde?

Am meisten die Muslime. Weil sie auch so anders waren. Es war nicht einfach. Manche haben mich verteidigt in der Schule. Später hatte ich einen Russen als Freund. Er ist in der 6. Klasse dazu gekommen. Er hieß Vitalij. Ich wollte ihm noch einmal danke sagen. Aber ich weiß nicht, wie finden. Weißt du, das war so: Ich konnte ganz gut malen. Und wenn das neue Jahr kam, mussten wir ein Plakat malen.  Und ich war immer allein, und musste immer überlegen. Und dann kam er, von irgendwo aus Russland, und er hat keine Mutter gehabt. Und er konnte auch gut malen. – Ich war immer verweint. Ich habe jeden Tag geweint in der Schule. Und Vitalij hat gefragt:  Warum hast du so tränige Augen, wieso sind sie immer nass? Und ich habe ihm alles erzählt.

Was hast du ihm erzählt?

In der ersten Reihe hat ein Junge gesessen, nach der 3. Klasse und auch die nächsten Jahre noch. Der Junge hat mich immer beleidigt als Deutsche. Er hat mich als Faschist bezeichnet. Am Tag des Sieges, am 9. Mai, hat er mich auch geschlagen. Einmal war da ein Mann mit vielen Orden, der hat mich verteidigt. Er hat dem Jungen gesagt: Du hast die Faschisten nicht gesehen! Ich habe Vitalij alles erzählt.  In der 6. und 7. Klasse hat mich Vitalij verteidigt. Ich habe überlegt, wenn ich morgens in die Schule gehe, dass ich nicht allein gehe.

Erntedank in der Gemeinde Tokmak 1980

Was war am Schlimmsten?

Ich habe in der dritten Reihe gesessen. Und hinter mir immer der Junge. Er hat an meinen Haaren gezogen. Ich habe gesagt: Wenn du mich nicht schlägst, kriegst du Äpfel. Und er hat es umgedreht. Er sagte: Wenn du mir keine Äpfel gibst, schlage ich dich. Manchmal habe ich die Äpfel sogar gekauft. Und warum das alles? Weil ich deutsch bin.

Hast du Unterstützung von zu Hause bekommen?

Mein Papa war oft in der Schule, bei der Lehrerin. Er hatte die Schule vor vielen Jahren mit gebaut. Aber die Lehrerin hat zu Papa gesagt: Das ist doch selbstverständlich, das sind doch Faschisten. Einmal so, immer so. Es gibt noch eine schlimmste Erfahrung.

Noch eine zweite schlimme Erfahrung?

Ja, der Junge hat mir eine tote Schlange hinten in die Bluse reingelegt. Die Schlange war kalt, sie hat sich bewegt, obwohl sie ja tot war. Sie ist am Rücken runtergerutscht und ich konnte sie nicht aus der Bluse rausbekommen. Ich bin bewusstlos umgefallen. Das beschäftigt mich bis heute. Im Sommer gucke ich immer im Gras, ob da eine Schlange ist.

Deutsche Sprache in der Sowjetunion.

Was ist aus Vitalij geworden?

Vitalij ist wieder nach Russland gezogen, vor den Prüfungen in der 8. Klasse. Er hat mir seine Adresse gegeben. Aber ich habe ihm keinen Brief geschrieben. Ich weiß nicht, warum. Das ist schlimm für mich. Bis heute überlege ich: Warum habe ich nicht geschrieben? Ich habe noch seine Adresse im Kopf.

Wie hast du die Schule geschafft?

Ich muss immer kämpfen. Manchmal denke ich, ich muss mich verteidigen. Eine schiefe Frage, eine schiefe Antwort. Ich habe so eine Empfindlichkeit. Man kann sagen: Ich habe ein Bedürfnis nach… Harmonie! Verzeihung, es ist nicht einfach. Es ist tiefer. Man muss es spüren.

Du hast dich in einem kirgisischen Fluss taufen lassen, glaube ich. 

Ja, das war im Fluss Tschu, am 2. September 2002. Mein Taufspruch steht in Sprüche 3,5: Vertraue Gott mit ganzem Herzen, und verlasse dich nicht auf deinen Verstand. Ja, das war alles vor der Taufe, da konnte ich nicht verzeihen. Aber die Taufe hat es gebracht. Gott hat ein Wunder gemacht. Verzeihen ist eine Gabe, er hat mir die Gabe geschenkt.

Was ist aus dem Jungen geworden?

Der Junge ist gestorben, die anderen aus der Klasse haben es mir erzählt. Ich habe ihm verziehen. Der Junge ist selber geschlagen worden. Und er hat gesagt: Ich mache alles, nur bitte schlagt mich nicht. Aber ich habe das erst nach der Taufe verstanden, warum ich diesen großen Stein im Herzen getragen habe. Es geht mir leichter, wenn ich verzeihe.

Danke, liebe Olga, für die Offenheit und das Vertrauen. Es geht leichter, wenn man verzeiht. Gott segne dich auf deinem Weg. 

Mama, Papa, Olga und Eduard.

Fotos: privat. Fragen: Andreas Schrock. Anmerkung: Städte, Länder, selbst Flüsse ändern mit den Jahrzehnten ihren Namen. Die Schreibweise im Interview folgt dem Sprachgebrauch, wie er hier erinnert wird.

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Adventistischer Pressedienst Deutschland (APD)

 

 

 

 

Verlag am Birnbach - Motiv von Stefanie Bahlinger, Mössingen

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